Dienstag, 28. April 2015

Gestern in der Praxis: Im Netz gefangen?

Daniel (alle Namen geändert) ist zehn. Er hat große Probleme mit der Rechtschreibung und auch in Mathe werden die Schwierigkeiten immer größer, so dass er seit einem knappen Monat zu mir in die Lerntherapie kommt.

Bevor wir mit der Stunde beginnen, bitte ich ihn, sein Smartphone auszuschalten, das fast ohne Unterlass piepst. Er schaltet den Ton aus und legt das Handy auf den Tisch. O.k., denke ich, solange es keine Geräusche macht, ist ja alles gut... Wie naiv! Daniel schaut mich zwar an und tut so, als würde ihn interessieren, was ich sage, doch alle zwei Sekunden wandern seine Augen zu seinem Telefon, auf dem ständig Nachrichten aufblinken.

Ich spreche ihn darauf an und versuche ihm zu erklären, dass eine Unterhaltung so ja kaum möglich sei, wenn er sich nur auf sein Handy konzentriere. Meiner Aufforderung, das Telefon jetzt wirklich auszuschalten, kommt er sehr widerstrebend nach. Ich bitte ihn, die Augen zu schließen und mal in sich zu spüren. Wie fühlt er sich jetzt, wo das Handy aus ist? "Schlecht!", kommt die prompte Antwort. Ich frage ihn: "Wenn ich dich bitten würde, ein Bild darüber zu malen, wie du dich jetzt fühlst, wie würde das wohl aussehen?" Was er beschreibt, finde ich wirklich beeindruckend: Es hängen ganz viele Fäden von der Decke, an denen er befestigt ist. Und man sieht eine große Schere, die die Fäden durchschneidet, so dass er gleich abstürzt. Danach fehlen mir wirklich erstmal die Worte - noch deutlicher kann man eigentlich nicht beschreiben, dass man sich abgeschnitten fühlt und dass das einem "Absturz" gleichkommt. 

Lisa kommt gleich in der Stunde nach Daniel. Lisa ist dreizehn. Sie kommt zu mir, da sich ihre schulischen Leistungen in den letzten beiden Schuljahren sehr verschlechtert haben. Der Grund dafür ist nicht schwer zu finden: Lisa wurde fast ein Jahr lang ganz heftig gemobbt - in ihrer WhatsApp-Klassengruppe. Es hat lange gedauert, bis sie den Mut fand, sich einer Lehrerin anzuvertrauen. Sie wechselte die Schule, bekam Hilfe vom Schulpsychologen und fängt gerade erst wieder an, ein normales Teenagerleben zu führen.  

Daniel und Lisa sind recht extreme, aber keinesfalls Einzelfälle. 

Damit wir uns nicht falsch verstehen: Ich bin wirklich die Letzte, die Smartphone, Computer und Co. pauschal in die Tonne treten will - wer mich kennt, weiß, dass ich mein Smartphone sehr gern habe (ja, o.k., ich liebe es...), auf meinen PC keinesfalls mehr verzichten will und mich z.B. auch des öfteren auf Facebook tummele. Und doch mache ich mir Sorgen.

Fast jeder "meiner" Grundschüler hat einen eigenen Fernseher, die meisten mindestens eine Konsole. iPad, Laptop, PC sind fast schon eine Selbstverständlichkeit. 

Ja, das ist der Zeitgeist. Und ja, es stecken sicher auch Ressourcen in diesen Geräten, die man nutzen kann, auch für das Lernen. Was mir Angst macht, ist die Tatsache, dass wir noch nicht absehen können, was diese mediale Überflutung mit unseren Kindern macht. Wenn Eltern im Gespräch sagen, dass sie den Medienkonsum ihrer Kinder im Blick haben, so kann ich nur erwidern, dass das in den meisten Fällen eine Illusion ist. Nicht erst ein Schüler hat mir erzählt, dass er, wenn die Eltern denken, er schlafe, noch ein wenig das Tablet hervorholt. Auch nachts, wenn sie aufwachen, schauen viele Schüler schnell einmal auf das Handy, um zu sehen, ob sie irgendetwas verpasst haben. Doch auch, wer den Kindern abends im übertragenen Sinne den Stecker zieht, weiß noch lange nicht, was sich in diversen WhatsApp-Gruppen, bei Facebook etc. tut. Denn es geht ja oft gar nicht um die Hardware an sich, sondern darum, dass es Eltern nur schwer möglich ist, die Kontrolle über Inhalte zu behalten - bei aller guten Absicht.

Was Studien belegen, kann ich aus meiner Erfahrung als Lerntherapeutin bestätigen: Häufiger Medienkonsum ist der Konzentrationskiller Nummer eins. Mal abgesehen davon, dass es immer wieder vorkommt, dass ich mitten im Satz unterbrochen werde: "Du, kann ich dir mal schnell das Gebäude, das ich auf "Minecraft" gebaut habe / mein neues Baby bei den "sims" / meinen Highscore bei "Paper Toss" (beliebig erweiterbar) zeigen?", können sich Kinder und Jugendliche, die sich oft mehrere Stunden am Stück mit elektronischen Medien beschäftigen, häufig nicht sehr lange auf etwas anderes (wie den Aufsatz, die Matheaufgaben etc.) konzentrieren. Medienentzug wird von Eltern immer öfter als Strafe eingesetzt und viele Kinder haben dann regelrechte Entzugserscheinungen, was uns zu denken geben sollte.

Was kann man tun?

Ein "Allheilmittel" gibt es meiner Meinung nach nicht. Ich bin keine Freundin von Komplettverboten. Elektronische Medien sind heutzutage überall, es ist so gut wie nicht möglich, Kinder (und vor allem Jugendliche) davon fern zu halten. Aber man kann

  • von klein auf einen verantwortungsvollen Umgang mit elektronischen Medien üben (und zwar konsequent).
  • den Kindern schon sehr früh zeigen, dass PC, Konsole und Co. zwar Spaß machen, es aber in der realen Welt auch so vieles gibt, das mindestens genauso interessant ist.
  • verhindern, dass der Fernseher oder PC zum Babysitter wird, indem man sein eigenes Verhalten immer wieder hinterfragt. 
  • Interesse zeigen, immer wieder nachfragen und sich zeigen lassen, was die Kinder spielen oder wo sie im Netz unterwegs sind.
  • für jüngere Kinder Startseiten wie "Blinde Kuh" einrichten, auf denen sie weitestgehend sicher surfen.
  • sich fragen, ob das Kind wirklich schon auf WhatsApp, Facebook etc. unterwegs sein sollte.
  • feste Bildschirmzeiten vereinbaren und sich auch konsequent daran halten.
  • abends Tablets und Handys aus Kinderzimmern entfernen - ein guter, alter Wecker auf dem Nachttisch tut es auch. Das hat nichts mit mangelndem Vertrauen, sondern mit Schutz zu tun. Wenn es von Anfang an so gehandhabt wird, werden sich die Diskussionen in Grenzen halten (und wenn die Kinder eh' nicht schummeln wollten, gibt es ja auch gar keinen Grund für Diskussionen... ;-)). 
  • sich klar machen, dass Kinder durch Vorbilder lernen. Wenn Eltern selbst das Smartphone nie aus der Hand legen, ständig vor dem Bildschirm sitzen und das Wochenende vor der Konsole verbringen, ist es ja fast schon lächerlich, vom Kind etwas anderes zu erwarten...
  • sich Hilfe holen, wenn man merkt, dass man das Medienproblem allein nicht mehr in den Griff bekommt. Der Kinder- und Jugendarzt z.B. kann eine erste Anlaufstelle sein, der dann an spezielle Hilfsangebote verweist. 

Wenn man darüber nachdenkt, dass diese Medienflut in weniger als einer Generation über uns geschwappt ist, wird klar, dass die Herausforderungen an die Erziehung nicht gerade kleiner geworden sind. Es ist sicherlich manchmal sehr anstrengend, hier den Überblick zu behalten und konsequent zu bleiben. Aber das darf auf keinen Fall als Ausrede dafür dienen, zu resignieren, nach dem Motto: "Da kann ich ja eh' nichts machen!" Nicht geändert hat sich, dass wir die Verantwortung für unsere Kinder tragen - und dieser Verantwortung dürfen und sollten wir uns nicht entziehen. 

  


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